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Die Blaumeise, ihr Spiegelbild und unser Schatten


Die Blaumeise auf der Flucht

Die letzten Wochen kam eine einzelne Blaumeise an die Fenster meines Wohnzimmers und meiner Küche geflogen und flatterte von aussen gegen die Scheibe - immer und immer wieder. Ich habe das noch nie vorher so gesehen und ich hatte gar keine Ahnung, was der Vogel da machte oder wollte. Ich wusste nur: mich nervte das klackende Geräusch, das der Vogel machte, als er immer wieder gegen die Scheibe flatterte und mit seinem Schnabel dagegen schlug.


„Ein verwirrter Vogel - was stimmt denn mit dem nicht?!“, war dann einer meiner Gedanken - besonders weil ich andere Blaumeisen rundherum sitzen und fliegen sah, die sich viel „vogelgetreuer“ verhielten.


Ich wusste mir in dem Moment nicht anders zu helfen, als eine Grafik einer Greifvogel-Silhouette aus dem Internet auszudrucken und mit Tesa an die Scheibe zu kleben. Geholfen hat das: Genau nichts. Der kleine Vogel kam immer wieder und sprang den Greifvogel total unbeeindruckt sogar direkt an. Das Beste was mir in der Situation einfiel: Immer wieder habe ich entweder die Terrassentür geöffnet oder von innen den Vogel „erschreckt“ und damit verjagt. Und auch das nur mit einer kurzfristigen Lösung der Situation. Der Vogel kam immer wieder.


Die Ursache für das Verhalten fand sich im Internet: Es war ein Blaumeisen-Männchen, das wohl in der Nähe sein Nest gebaut hat und nun Feinde und Gefahr fernhalten will. Und anscheinend gibt es genau in dieser Zeit auch das Phänomen, dass Blaumeisen das eigene Spiegelbild mit einer anderen Meise - einem möglichen Konkurrenten - verwechseln und versuchen, diesen zu bekämpfen und zu vertreiben. Und das war genau das, was der Vogel an meinen Fensterscheiben die ganze Zeit machte.


Später sagte meine Freundin im Scherz zu mir: „Ich bin froh, dass Du dein Spiegelbild erkennst und nicht versuchst vermeintliche Feinde zu bekämpfen.“ In dem Moment stimmte ich lachend zu. Das Bild des Spiegels und des vermeintlichen Feindes hat jedoch bei mir über Nacht gearbeitet. Am nächsten Morgen war das Bild immer noch gedanklich da und jetzt hatte ich eine andere Haltung dazu.


Es liegt in der Natur des Schattens, dass er von uns selbst nicht so gut erkannt werden kann, wie von jemandem anderen. Ist ja auch klar: es sind alle Seiten, die wir nicht haben wollen und demzufolge ablehnen.

Im Grunde sind wir als Menschen in unserem Verhalten nicht so weit entfernt von der kleinen Blaumeise und ihrem Kampf gegen ihr Spiegelbild: wir sind sehr begabt und gut geübt, all das was uns in uns und an uns stört, bei unseren Mitmenschen sehr genau zu beobachten und zu kritisieren. Wir bekommen so unseren eigenen Schatten gespiegelt - also all die Seiten unserer Persönlichkeit, die wir auch haben, die wir aber - aus Gründen - an uns ablehnen. Und weil es mitunter sehr unangenehm und auch schmerzhaft sein kann die eigenen unliebsamen Seiten zu erkennen - oder gar anzunehmen -, versuchen wir sie schon präventiv in der Beobachtung bei anderen zu „bekämpfen“.


Die Blaumeise auf einem Ast

Und genauso wie auch bei der Blaumeise, die ihr eigenes Überleben - und das ihrer Art - sichern will, ist ja auch unser Verhalten letztendlich im Grunde nur eine bewährte Strategie, wie wir gut durchs Leben kommen - und auch bisher gekommen sind. Eine Weiterentwicklung könnte es nun sein, von nun an ab und zu bewusst innezuhalten und zu überprüfen, ob wir da nicht eine spiegelnde Scheibe vor uns haben. Um dann in einem zweiten Schritt zu erkennen was uns da eigentlich gespiegelt wird, was wir vielleicht bisher nicht wirklich wahrhaben wollten. Und uns so zu erlauben, den blinden Fleck, den jeder von uns hat, in diesem Moment anzuerkennen und so wieder etwas kleiner werden zu lassen. Und das ist dann letztlich ein Geschenk - von uns, an uns.


Eine Blaumeise auf einem Ast

Das war die Fabel (true story!) von der Blaumeise und dem Schatten. Vielen Dank für das Lesen bis hierhin. Und wenn Du jetzt gerne Unterstützung hättest, den eigenen blinden Fleck kleiner werden zu lassen und meinst, eine Begleitung dabei täte Dir gut, dann lass uns sprechen. Es kostet Dich nur Mut.

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